Günther LoewitSchriftsteller
Blog

Vor der medizinischen Haustür

28. Jänner 2017

Vor der eigenen Haustür gekehrt


Das ist wohl das Schwierigste, sich vor den Spiegel zu stellen und den Blick nicht in die schlechte weite Welt schweifen zu lassen.
Und eines sei klar festgestellt: die Welt war nie gut oder schlecht, sie entwickelt sich abseits aller menschlichen Wertesysteme einfach von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr und Jahrhundert zu Jahrhundert so, wie es unter dem Einfluss der verschiedenen Kräfte, Strömungen, Intentionen - sowohl physikalisch-astronomisch als auch menschlich-sozioökonomisch gesehen - sein muss und nur sein kann. Denn sonst wäre sie ja vom gegenwärtigen Bild verschieden.
Das gilt auch für die Medizin.
Die Erwartungen der Gesellschaft und der einzelnen Patienten verändern sich mit dem Lauf der Geschichte. Der Schusswunde zu Kriegszeiten steht die seelische Verletzung als Kategorie einer Wohlstandsgesellschaft gegenüber. Natürliche Alterung und Karzinome begleiten die Menschheit nebenbei seit den Anfängen ihrer Existenz. Das Besondere an der Medizin ist also wohl die Tatsache, dass sie irgendwo zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen künstlerischem Experiment und physikalischer Reproduzierbarkeit anzusiedeln ist. Meine Selbstwahrnehmung als Arzt, so muss ich gestehen, hat sich im Laufe des Lebens innerhalb dieser dargestellten Parameter laufend verändert. Nur eines ist dabei immer gleich geblieben: stets habe ich mich als stolzer Diener der Bedürfnisse meiner Patienten gesehen. Und trotz aller möglichen, und zum Teil sicherlich berechtigten Einwände behaupte ich: Ich bin ein Arzt.
Und nur aus diesem Selbstverständnis heraus wage ich die folgende Fragen zu stellen:
Wann und wo ist uns Medizinern das Ärztliche abhanden gekommen? Wann haben wir unseren Stolz verloren, und warum die gesellschaftliche Vorbildrolle zur Seite gelegt?
Welche Verpflichtungen, welche Seilschaften, welche uns nicht ersichtlichen Überlegungen verhindern eigentlich ein klares Nein der Ärztevertreter zu ELGA, E-Medikation und dem immer weiter um sich greifenden Dokumentationswahn? Warum lassen wir Ärzte die Medizin zur Prostituierten der Politik und des gesellschaftlichen Kontrollwahns verkommen? Warum ordnen wir uns in vorauseilendem Gehorsam den Auswüchsen einer allesverschlingenden IT-Industrie unter? Geben wir älteren Ärzte unsere erstrebenswert geglaubten Werte nicht mehr in ausreichendem Maße an eine neue Generation von Kollegen weiter oder sind diese Werte schlicht und einfach überholt?
Oder sind wir Ärzte nicht prinzipiell schlechte Vertreter unserer eigenen Ideen?
Weil wir in unserem Beruf den ganzen Tag lang feinfühlig und sensibel, zuhörend und einfühlsam mit Menschen umgehen -, und am Abend mit eiserner Faust unsere politischen Bedürfnisse durchboxen sollten und nicht können, weil wir uns ganz offensichtlich von Berufspolitikern immer wieder gekonnt über den Tisch ziehen lassen?
Oder liegt der Verlust des ärztlichen Stolzes in der gewaltigen Entwicklung einer Medizinindustrie begründet, die die Absolventen des Medizinstudiums geschickt als Verteiler ihrer Produkte einsetzt, bevor diese überhaupt ein eigenes ärztliches - Seele und Körper des Patienten zusammenfassendes - Selbstbewusstsein entwickeln können?
Tagtäglich erlebe ich Patienten, deren Bedürfnisse ganz andere sind, als die moderne Medizin in ihrer diagnostisch und therapeutischen Entwicklung abzudecken gewillt und/oder imstande ist.
Wenn wir sterbenden Karzinompatienten mit multiplen Organmetastasen auf ihre verzweifelte Frage nach der Zukunft weitere sündhaft teure Therapien anbieten, von denen wir genau wissen, dass sie das vorzeitige Ableben nicht verhindern werden können, genau dann sind wir keine Ärzte mehr, sondern nur noch willfährige Diener einer gewinnmaximierten Industrie. Und damit liegen wir nicht schlecht im Trend der Zeit.